Die Zukunft des Gesundheitswesens in Deutschland

Als Think Tank und Dienstleister für die Landesregierung hat das Innovationszentrum Niedersachsen gemeinsam mit der ScMI AG Szenarien zum Zukunftsfeld „Gesundheitswirtschaft“ erarbeitet. Die in einer Szenariostudie dargestellten Zukunftsbilder sollen zum Weiterdenken und Mitdiskutieren anregen.

Der rasante Zuwachs medizinischen Wissens und technologischer Innovationen für diagnostische, therapeutische und pflegerische Maßnahmen führt zu einer zunehmenden Ausdifferenzierung der modernen Gesundheitssysteme. Gleichzeitig steigen Kostendruck und Qualitätserwartungen, so dass die koordinierte Zusammenarbeit zwischen den Akteuren in der Gesundheitsversorgung einen zunehmend wichtigen Stellenwert einnimmt. Wie dynamisch der zweite, wachsende Gesundheitsmarkt sich entwickelt, ist zudem unklar. Aber insbesondere die demografische Entwicklung, die mit der Zunahme älterer Bürger auch eine Zunahme chronischer Erkrankungen bringen wird, verlangt nach neuen Antworten im Gesundheitswesen. Diesen Herausforderungen müssen die zukünftigen Strukturen des Gesundheitssystems begegnen.

Als Think Tank und Dienstleister für die Landesregierung ist es die Aufgabe der Innovationszentrum Niedersachsen GmbH über den Tag hinaus zu denken. Daher wurden in einem gemeinsamen Projekt mit der ScMI AG neun Szenarien zur Zukunft des Gesundheitswesens in Deutschland entwickelt:

Solidargemeinschaft steuert Wettbewerb (Szenario 1)
Hochwertige Versorgung durch wettbewerbliches und wettbewerbsfähiges Gesundheitssystem bei solidarischer Finanzierung: In einer prosperierenden und individualistischen Chancengesellschaft ist Gesundheit zu einem der bestimmenden Zukunftsthemen geworden. Die öffentliche Hand setzt auf eine aktive Gesundheitspolitik, an der alle Entscheidungsebenen von den Ländern über den Bund bis zur EU mitwirken. Sie etabliert eine öffentliche Finanzierung auf solidarischen Prinzipien und schafft den Rahmen für mehr Wettbewerb. Das Gesundheitssystem gewährleistet eine hochwertige Grund- und Vollversorgung, wobei die Leistungserbringung verstärkt im Rahmen vielfältiger, integrierter Versorgungsmodelle erfolgt. Gesundheit ist gleichzeitig zu einem globalen Wachstumsmarkt geworden, in dem deutsche Unternehmen sich erfolgreich positionieren und in dem das deutsche Gesundheitswesen auch für ausländische Patienten attraktiv geworden ist.
Key player im globalen Wachstumsmarkt (Szenario 2)
Hochwertige Versorgung in globalisierter Gesundheitswirtschaft: In einer prosperierenden Verantwortungsgesellschaft ist Gesundheit zu einem der bestimmenden Themen sowie zu einem globalen Wachstumsmarkt geworden. Viele Menschen achten selbst auf gesundheitsbewusstes Verhalten und die Politik schafft – vor allem auf Bundes- und EU-Ebene – den Rahmen für ein wettbewerbliches Gesundheitssystem. Dessen Finanzierung erfolgt primär durch die Versicherten innerhalb des öffentlichen Gesundheitswesens sowie durch verstärkte private Vorsorge. Das vielfältige IV-Ansätze einschließende Gesundheitssystem gewährleistet eine hochwertige Grund- und Vollversorgung. Deutsche Unternehmen und Leistungsanbieter positionieren sich erfolgreich auf den globalen Märkten.
Lifestyle-Branche koppelt sich ab (Szenario 3)
Hochwertiges Gesundheitswesen als Standard – Gesundheitsrelevante Freizeitwirtschaft als davon getrennter Wachstumsmarkt: In einer boomenden und individualistischen Chancengesellschaft ist „Gesundheit im engeren Sinne“ durch eine hochwertige Grund- und Vollversorgung gewährleistet und wird als Selbstverständlichkeit empfunden. Die meisten Menschen achten mehr auf oberflächliche Aspekte und verstehen „Gesundheit“ als Lifestyle. Daher entwickelt sich die freizeitorientierte Gesundheitswirtschaft als eigenständiger Wachstumsmarkt neben dem von Krankenversicherungen und Pharmaunternehmen geprägten sowie in Finanzierung und Leistungserbringung stark privatisierten „ersten“ Gesundheitswesen. Beide Teilsegmente sind stark globalisiert, wobei sich deutsche Unternehmen erfolgreich positionieren und Leistungserbringer den „Lifestyle-Standort Deutschland“ vorantreiben.
Brüssel setzt auf Innovation und freie Marktkräfte (Szenario 4)
Szenario 4 befindet sich in einem Umfeld aus hohem Wachstum, starkem Wettbewerb, einer zurückhaltenden Politik und Problemen in der Grundversicherung. Europäische Gesundheitspolitik sichert hochwertige Versorgung und kompetente Handhabung neuer Krankheitsbilder – auf Kosten einer „health divide“: In einer stark deregulierten und fortschrittsorientierten Chancengesellschaft ist Gesundheit zu einem wichtigen Thema sowie zu einem globalen Wachstumsmarkt geworden. Nicht zuletzt angesichts neuer, schwerer Krankheitsbilder ist die EU zum zentralen Akteur in der Gesundheitspolitik geworden. Sie setzt auf technologische Innovationen – beispielsweise in der Biotechnologie – und etabliert ein weitgehend privat finanziertes und von privaten Leistungserbringern gestaltetes Gesund-heitswesen, in dem die große Masse Zugang zu hochwertiger Vollversorgung hat. Deutsche Unternehmen und Leistungsanbieter positionieren sich erfolgreich, wobei sie zunehmend nicht mehr als nationale Anbieter erkennbar sind.
Selbst ist der Patient – und preisbewusst (Szenario 5)
Zunehmende Eigenverantwortung in privat geprägtem Gesundheitswesen mit „Low-Price“-Segment: In einer deregulierten Gesellschaft streben die Menschen nach Sicherheit, Gemeinschaft – und damit auch und vor allem nach Gesundheit. Da die wirtschaftliche Entwicklung eher verhalten ist, können sich aber immer weniger Menschen die vollständigen Leistungen des klassischen, an private Finanzierung gebundenen Gesundheitssystems (oder auch nur eine gesundheitsbewusste Ernährung) leisten. Gleichzeitig sind sie als Konsumenten sowie als Patienten kritisch und anspruchsvoll, so dass sich ein stark wachsender Markt für „Low-Price-Health“ entwickelt, in den auch Elemente der freizeitorientierten Gesundheitswirtschaft integriert werden.
Gesundheit als Standortnachteil (Szenario 6)
Flucht von privat finanzierter, minderwertiger, öffentlicher Gesundheit – Deutschland wird im Wachstumszyklus abgehängt: In einer im globalen Wettbewerb zurückfallenden Gesellschaft sehnen sich die Menschen nach Sicherheit, Gemeinschaft – und dem verlorenen Wohlstand. Gesundheit ist in dieser Situation kein zentrales Thema (mehr). Der Staat begrenzt die öffentlichen Gesundheitsausgaben und verlagert einen immer größeren Teil der Finanzierung in die private Vorsorge. Da die Attraktivität des Marktes für private Investoren begrenzt ist, wird das Gesundheitswesen nach wie vor stark von öffentlichen Leistungserbringern getragen, die innerhalb des zur Verfügung stehenden Rahmens nur eine reduzierte Grund- sowie eine einge-schränkte Vollversorgung sicherstellen können.
Renaissance der öffentlichen Gesundheit (Szenario 7)
Freiheit der Akteure, Beschäftigungsmotor – aber Rückgang der Standards: Immer mehr Menschen sehen in Globalisierung und Deregulierung die Ursachen für ökonomische Krisen und rückläufigen Wohlstand. Daher kommt es zu einer „Renaissance der Politik“, in deren Zuge das Gesundheitswesen als öffentliches Gut verstanden und Privatisierungen gestoppt oder sogar rückgängig gemacht werden. Dabei zielen Bund und Länder vor allem auf die Rolle der Gesundheitswirtschaft als Beschäftigungsmotor ab. Bei der Ausgestaltung des national geprägten Gesundheitssystems setzen sie auf die Selbstorganisation der Leistungserbringer in integrierten Versorgungsmodellen, was in der Konsequenz aber eher die traditionellen Strukturen zementiert anstatt die Versorgungsqualität nachhaltig zu verbes-sern.
Rien ne va plus (Szenario 8)
Versicherte und Steuerzahler finanzieren erstarrtes Gesundheitssystem mit geringer Versorgungsqualität: In einem stagnierenden Wirtschaftsumfeld suchen die Menschen nach Sicherheit, klammern sich an Bestehendes und lehnen Veränderungen ab. Im Gesundheitsbereich gelingt es der Bundes- und Landespolitik trotz starker Regulierung nicht, neue Strukturen zu etablieren. Entstehende Finanzlöcher werden immer wieder durch zusätzliche Beiträge oder staatliche Zuschüsse gestopft. Viele Leistungserbringer agieren in einem wenig wettbewerbsorientierten Umfeld und die Qualität der Grund- und Vollversorgung nimmt deutlich ab. Selbst politisch gewünschte Prävention scheitert an der Umsetzung.
Yes, we can – viel, aber nicht alles (Szenario 9)
Szenario 9 beschreibt eine mögliche Zukunft in einem Umfeld aus geringem Wachstum, wenig Wettbewerb, aktiver Regulierung und Problemen in der Grundversicherung. Nationale Gesundheitspolitik sichert hochwertige Grundversorgung, aber mangelnde Innovationen treiben anspruchsvolle Patienten ins Ausland: In einer von wirtschaftlichen Problemen geprägten Gesellschaft streben viele Menschen nach Sicherheit und setzen dabei wieder stärker auf die Gestaltungskraft der Politik. Vor allem der Bund sieht in der Gesundheitspolitik ein Schwerpunktthema, wobei er weniger auf neue Strukturen als auf die effiziente Ausgestaltung des bestehenden Gesundheitswesens setzt. Insbesondere mit Hilfe der Informationstechnologie wird eine hochwertige Grundversorgung aufgebaut. Achillesferse der Entwicklung ist die geringe Innovationskraft, so dass Deutschland bei neuen Technologien und Verfahren sowie anspruchsvollen Zusatzleistungen im internationalen Vergleich zurückfällt.

Mit diesen Umfeldszenarien ist das Innovationszentrum Niedersachsen in der Lage, denkbare Rahmenbedingungen für die Gesundheitspolitik in Niedersachsen frühzeitig zu durchdenken.

Mit Strategieszenarien die eigenen Handlungsmöglichkeiten durchdenken

Zusätzlich zu dieser Außenperspektive wurde in einem zweiten Teilschritt die interne Landesperspektive eingenommen. Dabei galt es ebenfalls, mögliche Zukünfte zu beschreiben. Diese sogenannten Strategieszenarien beinhalteten drei Aspekte: die Gesundheitspolitik in Niedersachsen, das politische Umfeld der Gesundheitspolitik sowie die Akteure der Gesundheitswirtschaft in Niedersachsen.

Entstanden sich in diesem Folgeprozess sieben Strategiealternativen. Das so aufgespannte Spektrum reichte von einer von Sachzwängen getriebenen Gesundheitspolitik bis zu liberalen und nachhaltigen sowie forschungs- und beschäftigungsorientierten Politikansätzen. Um diese Strategieszenarien einordnen zu können, wurde anschließend die Ausgangssituation sowie die gegenwärtig verfolgte Strategie eingeordnet.

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