Alternative Zukünfte systematisch vorausdenken
Die Nutzung von Szenarien als wirtschafts- und sozialwissenschaftliches Instrument geht auf Herman Kahn und Anthony J. Wiener von der RAND Corporation zurück. In den 1970er-Jahren begannen erste Unternehmen wie General Electric und Royal Durch/Shell mit der systematischen Entwicklung unternehmensspezifischer Zukunftsbilder. Inzwischen haben sich eine Vielzahl verschiedener Ansätze entwickelt, die sich nach dem Grad der Ungewissheit und Komplexität im Umfeld charakterisieren lassen:
Vier Stufen der Ungewissheit
Der Umgang mit Ungewissheit erzeugt bei den meisten Menschen Unbehagen – so auch bei Entscheidern und Planern. Zunächst wird versucht, die Zukunft durch eindeutige Prognosen vorherzusagen. Diese angenommene Planbarkeit kann als erste Stufe der Ungewissheit verstanden werden. Wird allerdings deutlich, dass Marktumfelder mit solchen Instrumenten nicht mehr planbar sind, so verzichten viele weitgehend auf eine systematische Auseinandersetzung mit der Zukunft. In einem Umfeld völliger Unschärfe (Stufe 4) versuchen sie dann – gestützt auf eine hohe Flexibilität – möglichst schnell auf jede erkennbare Veränderung zu reagieren. Später stellen sie allerdings fest, dass sie von „plötzlichen“ Ereignissen getroffen werden und sich ihr Spielraum zu diesem Zeitpunkt erheblich verengt hat. Viele strategische Entscheidungssituationen sind allerdings dadurch gekennzeichnet, dass sich die Zukunft weder exakt vorhersagen lässt, noch vollständig ignoriert werden darf. Solche Situationen können durch eindeutige Alternativen (Stufe 2) oder durch einen weitgespannten Zukunftsraum (Stufe 3) vorab durchdacht werden.
Vier Stufen der Komplexität
Neben der Ungewissheit spielt beim Zukunftsmanagement die Vernetzung eine große Rolle: Traditionell agieren wir in relativ einfachen Umfeldsystemen (Stufe 1), welche sich durch wenige, in Regel sogar quantifizierbare Faktoren beschreiben lassen. Die meisten Managementinstrumente basieren auf dieser Sichtweise. Auf einer zweiten Stufe der Komplexität müssen wir unseren Fokus in zwei Richtungen erweitern – hin zu mehr und zunehmend qualitativen Einflussfaktoren. Solche vernetzten Systeme können im Dialog gehandhabt werden. In der dritten Stufe bedarf es spezifischer Instrumente, um mit der Vernetzung vieler Faktoren und ihren qualitativen Entwicklungsmöglichkeiten umzugehen. Wir sprechen daher auch von qualitativer Vielfalt. Auf der vierten Stufe finden wir schließlich Systeme, deren vielfältige Interaktion sich quantifizieren und in Modellen ausdrücken lässt – beispielsweise in Klimamodellen oder bei einer Wettervorhersage. Daher kann hier von quantitativer Vielfalt gesprochen werden. In strategischen Entscheidungssituationen liegt vornehmlich ein Vernetzungsgrad der Stufen 2 und 3 vor: Es sind viele Faktoren zu berücksichtigen, ohne dass sich deren Entwicklungsmöglichkeiten exakt quantifizieren lassen.
Mit Hilfe der vier Stufen von Ungewissheit und Komplexität lassen sich verschiedene Formen der Szenarioentwicklung einordnen:
Für die strategische Entscheidungsfindung eignen sich vor allem die morphologischen und die komplexen Szenarien. Deren Entwicklung erfolgt im Kern in vier Schritten, die nachfolgend dargestellt werden.
Auswahl von Schlüsselfaktoren (Schritt 1)
Zunächst wird das betrachtete Szenariofeld systematisch gegliedert und durch konkrete Einflussfaktoren beschrieben. Basierend auf einer Bewertung der wechselseitigen Vernetzung dieser Faktoren werden etwa 15-20 Schlüsselfaktoren ermittelt, die die zukünftige Entwicklung des Szenariofeldes darstellen.
Entwicklung von Zukunftsprojektionen (Schritt 2)
Nunmehr werden je Schlüsselfaktor mögliche künftige Entwicklungen – sogenannte Zukunftsprojektionen – entwickelt und ausformuliert. Die Zukunftsprojektionen beschreiben strategisch relevante, charakteristische und qualitative Entwicklungsalternativen der einzelnen Schlüsselfaktoren.
Verknüpfung der Projektionen zu Szenarien (Schritt 3)
Szenarien sind »Denk-Werkzeuge«, die mögliche Zukunfts-verläufe aufzeigen. Daher müssen die einzelnen Szenarien möglichst widerspruchsfrei sein. Gleichzeitig sollen sich die verschiedenen Szenarien möglichst stark voneinander unterscheiden. Als Ergebnis der Szenariobildung ergeben sich drei bis acht alternative Zukunftsbilder, die den Möglichkeitsraum weitgehend abdecken. Diese »Rohszenarien« werden anschließend so aufbereitet, dass sie von der zuvor identifizierten Zielgruppe verstanden werden können.
Strategische Interpretation des Zukunftsraumes (Schritt 4)
Im Anschluss an ihre Entwicklung werden die Szenarien strategisch interpretiert: Wer sind die Gewinner und Verlierer? Wer treibt die Entwicklung eines Szenarios an? Was sind die Indikatoren, die frühzeitig auf das Eintreten eines Szenarios hinweisen? Dieser Schritt dient neben der Verdichtung der Ergebnisse auch der Vorbereitung einer Anwendung der Szenarien im Rahmen der strategischen Planung.