In Corporate Hands

Fortschritt auf Kosten von Teilhabe

  • Massive Beschleunigung von Wirtschaft und Alltagsleben
  • Neue Technologien in hochinnovativem und global offenem System bei massiver Flexibilisierung des Arbeitslebens
  • Pandemien können durch medizinischbiologischen Fortschritt frühzeitig unterdrückt werden, was aufwendige Resilienzstrategien unnötig macht
  • Global orientierte Unternehmen gewinnen gegenüber Nationalstaaten an Macht und schwören eine schleichende Systemkrise herauf
  • Innerhalb der Gesellschaften verstärken die vielfach privatisierten Bildungsund Sozialsysteme die Disparitäten
  • Virtualisierung als Problemlöser im Alltag – aber auch zur Ruhigstellung weniger produktiver Gesellschaftsgruppen
  • Menschen folgen den alten Konsummustern und holen verpasste Freizeit- und Konsumchancen nach

 

Laissez-Faire und Deregulierung beschleunigen die Innovationsdynamik und den Machtgewinn globaler Konzerne

Der Unterschied zwischen den Corona- und den PostCorona-Jahren ist überdeutlich. Während sich das Leben während der Pandemie entschleunigte und die Staaten im Operativen deutlich an Einfl uss gewannen, kehrten sich diese Entwicklungen anschließend um. Regierungen rund um den Globus versuchten, ihre heimische Wirtschaft mittels weiterer Deregulierung zu entlasten und im sich stark beschleunigenden Standortwettbewerb zu unterstützen. So entstand trotz oder gerade wegen der Deregulierung eine Innovationsdynamik, die in vielen Bereichen disruptive Entwicklungen ermöglichte. Neben der von Künstlicher Intelligenz und Quantencomputing beschleunigten Digitalisierung kam es auch im medizinisch-biologischen Sektor zu erheblichen Fortschritten. So können neue Pandemien nun so frühzeitig erkannt und unterdrückt werden, dass aufwändige Resilienzstrategien nicht mehr notwendig sind. Verbunden mit dieser neuen Dynamik war eine Machtverschiebung von staatlichen Akteuren hin zu global agierenden Unternehmen, die sich häufig aus Plattform-Monopolen entwickelt haben. Diese Konzerne spielen einzelne Nationalstaaten gegeneinander aus und haben erheblichen Einfluss auf multilaterale Vereinbarungen und Organisationen gewonnen – beispielsweise im Rahmen einer parallelen Schiedsgerichtsbarkeit. Für den überwiegenden Teil von Politik und Öffentlichkeit stehen allerdings die Innovationserfolge im Mittelpunkt: Wer zunächst das Virus und anschließend die aufkeimende Rezession besiegt hat, dem traut man auch das Management der überfälligen Mobilitäts- und Energiewende zu. Auch das Sozial-, Gesundheits- und Bildungssystem überlässt man mehr und mehr der freien Wirtschaft und zieht sich auf eine primär verwaltende Rolle zurück. Die Europäische Union wird von starken Einzelinteressen dominiert und hat ihre Ansprüche, zu einem eigenständigen politischen Akteur zu werden, weitgehend aufgegeben. Allerdings spielt sie als Wirtschaftsgemeinschaft mit einem großen Binnenmarkt eine weiterhin bedeutende Rolle.

Innovationskraft der deutschen Wirtschaft führt zu rasantem Strukturwandel und Wertezuwachs sowie globaler Führungsposition

COVID19 hat in Deutschland die Einstellung zu Innovation, Technik und unternehmerischem Denken nachhaltig verändert. Sowohl die quasi erzwungene Digitalisierung während der Pandemie als auch die Erfolge der deutschen Biotech-Pioniere in der Impfstoff entwicklung haben dazu geführt, dass nicht mehr zuerst nach den Risiken gefragt wird, sondern nach den Chancen. In der Folge durchlief die deutsche Wirtschaft einen beschleunigten Strukturwandel: Leitindustrien sind nicht länger nur Automobil und Maschinenbau, sondern vermehrt der Pharma- und Medizinbereich sowie die Digitalwirtschaft, die vielfach auf Augenhöhe mit den USA und China agiert. Als besondere Stärke der deutschen Wirtschaft erweist sich deren Weitsicht. Die hiesigen Unternehmen denken langfristig und vorausschauend, sie agieren proaktiv, und zwar unabhängig von politischen Vorgaben. Beispielsweise treff en sie umweltadäquate Entscheidungen auch ohne unmittelbare Umwelt- und Klimakrisen und sichern sich so sowohl das Wohlwollen der Politik als auch die Akzeptanz von Kunden und Bürgern, deren Konsumverhalten sich signifikant verändert hat.

Starke Polarisierung lähmt die Politik in einer von Inszenierung geprägten, entpolitisierten Öffentlichkeit

Während mit dem Strukturwandel traditionelle Branchen und Berufe – und damit auch die alte Mittelklasse – immer mehr schwinden, treibt eine wachsende neue Mittelklasse der Wissensarbeiter den Innovationswettbewerb an. Gleichzeitig wächst eine neue Unterklasse heran und wendet sich gegen die Veränderungen inklusive der sie treibenden »Eliten«. Dies führt zu einer starken sozialstrukturellen, kulturellen und politischen Polarisierung. Die Volksparteien sind einem Erosionsprozess ausgesetzt, und vielerorts ist eine Dualität zwischen global orientierten und populistisch rückwärtsgewandten Bewegungen entstanden. Gemeinsame politische Überzeugungen erodieren, das Vertrauen in die politische Handlungs- und Reformfähigkeit sinkt, und es entwickelt sich eine schleichende Systemkrise. Politik, definiert als Führung einer Gemeinschaft, wird in diesem gesellschaftlichen Umfeld immer schwieriger. Die breite Ökonomisierung des öff entlichen Lebens äußert sich auch in den immer weniger integrierenden Medien, die nach rein ökonomischen Prinzipien geführt werden, kaum gesellschaftlicher Kontrolle unterliegen, und in denen faktenbasierte Information eine immer geringere Rolle spielt. Stattdessen dominieren Inszenierung und Unterhaltung. Und während sich die politischen Akteure einen medienwirksamen Kulturkampf liefern, nehmen die innovativen Unternehmen immer stärkeren Einfl uss auf den öff entlichen Diskurs und die politischen Entscheidungen. So fördern sie die Privatisierung der Bildungs- und Sozialsysteme, womit sich die Disparitäten in der Gesellschaft weiter verstärken und sie letztlich auch die Rolle des Staates weiter unterminieren. In allen Klassen gibt es einen starken Wunsch nach Individualität – auch wenn diese vielfach global vereinheitlichten Konsummustern folgt. Dank immer spezifi scherer Ansprache sowie personalisierter Produkte und Services entsteht eine Schein-Individualität, die von den globalen Konzernen gesteuert wird – im Idealfall weiß man dank »Predictive Analytics« schon vorher, was sich die Menschen demnächst wünschen werden.

Europa kann sich als Key player im globalen Digital-Wettbewerb etablieren

Technologie prägt den Alltag der Menschen wie niemals zuvor, und die Veränderungsgeschwindigkeit nimmt kontinuierlich zu. Dies wirkt sich auf das gesamte Leben, besonders aber auf die Arbeitswelt aus. Das Arbeitsleben ist massiv flexibilisiert, und wer sich der neuen und wissensgeprägten Projektwelt nicht anpasst oder nicht in der Lage ist, die Innovationsgeschwindigkeit mitzugehen, fällt durchs Raster. Ihm bleiben dann höchstens schlecht bezahlte Tätigkeiten und letztlich der Abstieg in eine prekäre Serviceklasse, die durch digitale Medien unterhalten und „bei Kaufl aune gehalten“ wird. Die weitgehende Überwachung durch digitale Monopolisten wird in der Gesellschaft akzeptiert, profitiert man doch von den zahlreichen digitalen Services und kann sich eine Leben ohne die vielfach unsichtbaren „Helferlein“ nicht mehr vorstellen. Dafür ist das Sicherheitsbedürfnis nicht besonders ausgeprägt – aber aus unterschiedlichen Gründen: Während Regulierung und Sicherheitsdenken von den neuen Wissensarbeitern oft als Knebelung empfunden wird, stellt sich für die neue Unterklasse diese Frage gar nicht, da sie kaum finanzielle Spielräume zur Absicherung hat. Die allgegenwärtige Leistungsgesellschaft konzentriert sich weiterhin auf urbane Räume, in deren Bezirken und Kiezen sich die gesellschaftlichen Gruppen aber immer stärker voneinander abgrenzen. Für viele Menschen bleibt immer weniger Raum für soziale Kontakte, so dass die Virtualisierung des Alltags mit einem Verlust von zwischenmenschlicher Nähe und Interaktion, vielfach auch Vereinsamung, einhergeht.

 

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