Zerfall der Ordnung

Kontrollverlust und Entsolidarisierung

  • Rezession und Arbeitslosigkeit haben zu vielfältigen gesellschaftlichen Konflikten geführt
  • Nationalstaaten schotten Heimatmärkte immer stärker ab
  • Autoritäre und nationalistische Kräfte auf dem Vormarsch: Destabilisierung des globalen Finanzsystems
  • Starke Desintegration in der EU. Selbst in Deutschland bestimmen zunehmend teilautoritäre Kräfte die Politik
  • Ungewissheit und offensichtlicher Kontrollverlust führen zu Rückzug in private Räume und bequeme „Wissensblasen“
  • Verlust sozialen Zusammenhalts und gemeinsamer Identität
  • Immer mehr Menschen bleiben in der enthemmten Ellenbogen-Gesellschaft zurück und müssen ihren Konsum einschränken

 

Covid19 machte des Weg frei für ein Zeitalter der Instabilität

Die globale Krise, die durch die COVID19-Pandemie ausgelöst wurde, hat beängstigende Ausmaße angenommen. Angestoßen durch die weltweite Angst vor der Krankheit und ihren Folgen hatten in den frühen 2020er-Jahren nahezu alle Länder nicht nur mit erheblichen Einschränkungen des öff entlichen Lebens, sondern auch mit teilweise rigoroser Abschottung reagiert. Auch wenn viele dieser Autarkiebemühungen vor allem symbolischer Natur waren und den verunsicherten Menschen Stabilität und Stärke suggerieren sollten, so kam damit eine Dynamik in Gang, die – gemeinsam mit den immer neuen Pandemiewellen – den Globalisierungsprozess nicht nur ausgebremst, sondern massiv umgekehrt hat. Der fehlende Austausch führt zu einer deutlichen Verlangsamung der Weltwirtschaft – und in vielen Regionen auch zu einer langanhaltenden Rezession. Viele Nationen sind im Kampf um Wohlstand und Gesundheit weitgehend auf sich selbst fokussiert und versuchen, die globale Verfl echtung ihrer Wirtschaft zurückzufahren: Ein chinesischer Industriestandard, ein russischer Impfstoff, ein türkisches Raumfahrtprogramm – multilaterale Kooperationen sind in weite Ferne gerückt. Darüber hinaus hat das Erstarken eines politischen Kapitalismus chinesischer Prägung nicht nur zur weiteren Verbreitung autoritärer und nationalistischer Strukturen geführt, sondern auch die illiberalen und populistischen Strömungen im Westen befördert. Die ohnehin fragile Europäische Union ist diesem Ansturm von Nationalismus und off en zur Schau gestellten Eigeninteressen nicht gewachsen und befindet sich in einem Prozess der Disintegration. Immer deutlicher stehen selbst der gemeinsame Binnenmarkt und das Eurosystem zur Disposition, was die Rolle Europas in der Welt weiter schwächt. Mit dem massiven Protektionismus und dem Einbruch des globalen Welthandels hat auch das Vertrauen der Nationen untereinander Schaden genommen. Multilaterale Organisationen wie die Vereinten Nationen sind kaum noch handlungsfähig – selbst die Weltgesundheitsorganisation spielt bei der Bekämpfung der immer wieder aufflammenden Epidemien so gut wie keine Rolle. Dafür haben die Anzahl und die Intensität globaler Konflikte massiv zugenommen, ausgelöst vor allem durch die konträren wirtschaftlichen Interessen und die zunehmenden Auswirkungen des Klimawandels, dessen Bekämpfung auf der Tagesordnung ebenso nach hinten gerückt ist wie die Themen Welternährung und globale Gerechtigkeit.

Die deutsche Wirtschaft verliert im protektionistischen Wettbewerb an Boden – innovative Unternehmen werden übernommen

Auch in ihrer Technologie- und Innovationspolitik streben die Nationalstaaten nach höherer Autarkie und setzen auf zunehmende Regulierung, auch der Wissenschaft, und direkte öff entliche Aktivitäten – allerdings bei den mittlerweile geringeren finanziellen Spielräumen. In der Folge kommt es zu einer Verlangsamung der technologischen Entwicklung und nochmals geringeren Wachstumsimpulsen für die Volkswirtschaften rund um den Globus. Die bereits vor der Pandemie existenten Schwächen der deutschen Wirtschaft – vor allem der Demografi ebedingte Produktivitätsrückgang, das lange Festhalten an tradierten Geschäftsmodellen und deutscher Ingenieurskunst sowie der verhaltene Umgang mit den digitalen Möglichkeiten – sind in der Nach-Corona-Rezession umso härter zu Tage getreten. Hatten sich viele Unternehmen während der Krise noch stark auf öff entliche Hilfen verlassen, so finden sie sich mit dem Ausbleiben weiterer Unterstützung jetzt in einem existenziellen Wettbewerb wieder. Selbst große Konzerne, vor allem aber innovative Mittelständler, geraten ins Visier fi nanzstarker globaler Wettbewerber und werden übernommen. Nicht selten ist es so, als würde Deutschland sein Tafelsilber abgeben, um sich kurzfristig über Wasser zu halten. Besonders augenfällig ist diese Entwicklung in den volatilen und miteinander verschmelzenden ehemaligen Kernbranchen wie Automobil oder Maschinenbau. Insbesondere hier geht nicht nur die globale Wettbewerbsfähigkeit zurück, sondern bricht auch die internationale Nachfrage ein, da machtvolle Player wie China, Indien oder die USA ihre eigenen Industriestandards durchzusetzen suchen und immer weniger auf deutsches Knowhow angewiesen waren.

Deutschlands demokratische Ordnung und rechtsstaatliche Stabilität gerät in Gefahr

Der wirtschaftliche Absturz Deutschlands lässt den gesellschaftlichen Zusammenhalt erodieren. Immer weitere Teile der Bevölkerung verzeichnen massive Wohlstandsverluste. Neben der nach der Pandemie wieder stark gewachsenden prekären Serviceklasse ist nun auch die Mittelklasse in den Abwärtssog geraten. Dazu trägt bei, dass mit der fortschreitenden Digitalisierung immer mehr klassische White-Collar-Jobs verschwinden, beispielsweise bei Banken und Versicherungen oder im Mittelbau vieler Unternehmen. Arbeitslosigkeit wird wieder zu einem zentralen Problem – und zum Nährboden für politische Instabilität. Vermittelte die Politik in Deutschland während der Pandemie noch ein Gefühl von Sicherheit und Handlungsfähigkeit, so war dies bereits in den frühen 2020er-Jahren ins Gegenteil umgeschlagen. Mit dem Absturz der exportorientierten Wirtschaft schwanden nicht nur die fi nanziellen Spielräume, sondern auch die Bereitschaft, sich den neuen Herausforderungen grundlegend zu stellen. Stattdessen agierten die traditionellen Parteien zunehmend planloser und ließen sich von den an kurzfristigen Quoten interessierten Medien in immer abenteuerlichere Diskurse verstricken. In der Folge kamen die radikaleren Ränder des politischen Spektrums auf den Plan und verkündeten lautstark, Lösungen zu kennen und hart durchgreifen zu wollen, um die Ordnung wieder herzustellen. Die politische Mitte versuchte zwar, zu beschwichtigen, agierte aber mutlos und verzichtete auf die dringend erforderlichen Reformen der Bildung-, Gesundheits- und Sozialsysteme. Eine Lösung aus dem Dilemma ist bis heute nicht in Sicht, so dass sogar in Deutschland die demokratische Ordnung und rechtsstaatliche Stabilität in Gefahr gerät.

Aus verzweifelter und auswegloser individueller Lage entsteht eine Ellenbogen-Gesellschaft

In der Gesellschaft führen die allgegenwärtige Ungewissheit, die Angst vor den Risiken in Technik und Wirtschaft sowie der off ensichtliche Kontrollverlust von Politik und Unternehmen zu einem Rückzug ins Private. Refl exhaft versuchen die Menschen, ihre eigenen Privilegien zu verteidigen und den sozialen Absturz zu verhindern. Dazu richten sie sich in ihren engen Umfeldern, ihrer »Heimat« und nicht zuletzt in den bequemen »Wissensblasen« der eigenen Wertegemeinschaft ein. Nur hier kann man ein letztes Stück Sicherheit und Geborgenheit spüren – und nimmt achselzuckend zur Kenntnis, wenn die Rettung der eigenen Existenz auf Kosten der Mitmenschen geht. Angefacht wird der Rückzug ins Private von den immer wieder auffl ammenden Pandemien. Da Politik und Unternehmen keine resilienten Strategien entwickelt haben, müssen die Menschen immer wieder mit Lockdowns und Einschränkungen umgehen. Auch die zunehmend unterfi nanzierten Gesundheitssysteme können nur versuchen, sich immer wieder neu durchzuwursteln. Die Zivilgesellschaft ist von Entsolidarisierung geprägt; mit ihren vormals sicheren Einkommen haben viele Menschen auch ihren sozialen Halt und den Sinn für die Gemeinschaft verloren. Stattdessen löst sich die Gesellschaft in kleine, einander stützende Subsysteme auf. Es kommt zu einem Gegeneinander von Regionen und Städten, von gesellschaftlichen Gruppen und Strömungen. Wer sich nicht einer starken Interessengemeinschaft zuwendet, läuft Gefahr, nicht mehr wahrgenommen zu werden, so wie viele, die vereinsamen oder in eine existenzgefährdende Lage geraten. Bei immer mehr Menschen spielen Luxus und Status schon längst keine Rolle mehr; sie müssen sich in dieser enthemmten Ellenbogen-Gesellschaft auf das tagtägliche Überleben konzentrieren und ihren Konsum einschränken, was die Abwärtsspirale in Wirtschaft und Politik in Gang hält.

 

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