Deutschland 2030 - Eine Landkarte für die Zukunft

Nicht zuletzt beim Blick in unsere Medien bekommt man das Gefühl: Deutschland hangelt sich von Krise zu Krise – es wird auf Sicht gefahren, vielfach ohne ein gemeinsames Ziel. Was fehlt sind Bilder möglicher und lebenswerter Zukünfte. Angeboten wird stattdessen häufig ein „Weiter so!“ – aber das haben schon frühere Generationen gedacht. Und dann kam alles ganz anders. Zukunftsblindheit verspielt Gestaltungschancen. Dabei sind die Potenziale in Deutschland vorhanden. Daher ist auf Initiative von Klaus Burmeister und Beate Schulz-Montag vom foresightlab das Open-Source-Projekt D2030 („Deutschland 2030“) entstanden, dessen Ziel ein dauerhafter Diskurs über die Zukunft Deutschlands in Europa in der Welt ist. Grundlage dafür sind Szenarien und eine Landkarte der Zukunft, bei deren Entwicklung die ScMI AG als methodischer Partner intensiv mitgewirkt hat. Vorgestellt wurden die Szenarien sowie daraus resultierende Leitfragen im Rahmen einer Zukunftskonferenz in Berlin-Neukölln im Juli 2017.


Die vorliegende Zukunftslandkarte zeigt acht Szenarien, die jeweils auf 33 Schlüsselfaktoren aufsetzen, deren Entwicklungsmöglichkeiten jeweils noch durch zwei oder mehr Dimensionen ausgedrückt wurden. Durch die Analyse dieses komplexen Netzwerks wurden zunächst zwei Hauptachsen identifiziert, die sich anhand von zwei Kernfragen erklären lassen:
Kernfrage 1: Wie ist Deutschlands Einstellung zu Veränderung und seine Bereitschaft zu globaler Zusammenarbeit? Unterschieden werden dabei zwei Seiten: Auf der linken Seite der Landkarte ist Deutschland ein offenes Land, eingebunden in transnationale Strukturen und bereit, sich für wirtschaftlichen Erfolg proaktiv zu verändern – auch durch signifikante Zuwanderung. Auf der rechten Seite der Landkarte setzt Deutschland auf traditionelle Werte, steht transnationalen Strukturen skeptisch gegenüber und schottet sich gegen unliebsame Einflüsse ab.
Kernfrage 2: Welche Bedeutung haben in Deutschland Nachhaltigkeit und bürgerschaftliches Engagement? So ist Deutschland im oberen Bereich der Landkarte geprägt von einer starken »Wir«-Orientierung mit bürgernahen Entscheidungen sowie einem hohen Bewusstsein für Umwelt und nachhaltigen Konsum. Im unteren Bereich der Landkarte ist Deutschland demgegenüber geprägt von Materialismus und traditionellem Konsumverhalten – Nachhaltigkeit und bürgerschaftliches Engagement spielen aufgrund des starken Individualismus nur eine untergeordnete Rolle.
Aus der Verknüpfung dieser beiden Hauptachsen ergeben sich vier Grundszenarien: (1) Spurtreue Beschleunigung, (2) Neue Horizonte, (3) Bewusste Abkopplung und (4) Alte Grenzen.


Die ersten beiden Grundszenarien werden jeweils durch drei (Sub-) Szenarien näher beschrieben. Deren Unterschiede werden deutlich, wenn man sich vier weitere Kernfragen ansieht:
Kernfrage 3: Wie entwickelt sich die globale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft? Hier stellt vor allem das Szenario 1A den Sonderfall eines deutlichen Rückgangs der Wettbewerbsfähigkeit dar.
Kernfrage 4: Wie entwickelt sich der breite Wohlstand in Deutschland – und was sind die Folgen für Politik und Gesellschaft? Dabei zeigt sich eine weitere Spaltung der Gesellschaft in den Szenarien 1A und 1B, während 1C und die 2er-Szenarien einen Wohlstandsanstieg in den mittleren und unteren Segmenten ausweisen.
Kernfrage 5: Welche Rolle spielt die öffentliche Hand bei der Weiterentwicklung Deutschland? Hier beinhalten die Szenarien 2C und 2B eine starke Position des Staates, während dieser im Szenario 2A viele Spielräume an zivilgesellschaftliche Gruppen übergibt – und die 1er-Szenarien ohnehin auf Liberalisierung und Privatisierung setzen.
Kernfrage 6: Wie ist Deutschlands Umgang mit global agierenden Konzernen und gesellschaftlicher Ungleichheit? Hier weist das Szenario 2C den Sonderfall einer deutlich kritischen Sichtweise gegenüber der freien Marktwirtschaft und eine aktive Umverteilung auf.

 

Durch den Einbezug dieser vier zusätzlichen Achsen ergeben sich insgesamt acht Szenarien für die Zukunft Deutschlands:

Spurtreue Beschleunigung - Unaufhaltsamer Abstieg (Szenario 1A)
Stark abnehmende Wettbewerbsfähigkeit und massive Wohlstandsverluste   +++   Doppeleffekt der Digitalisierung: Deutschland wird abgehängt und Gesellschaft gespalten   +++   Wachstum prekärer Arbeit und signifikante soziale Ungleichheit   +++   Machtfülle supranationaler Organisationen wird kritisch gesehen   +++   Anhaltende Zuwanderung und erfolglose Integration   +++   Individualisierung und Zuwanderung forcieren Wertekonflikte   +++   Innovationen in Energie und Mobilität unterbleiben   +++   Wettbewerb vor Umwelt – aber Spaltung fördert Tauschwirtschaft   +++   Schärfere Gesetze, trotzdem insgesamt kritische Sicherheitslage   +++   Geschwächte Position und Fokus auf kurzfristige Eigeninteressen  
Spurtreue Beschleunigung - Spaltung trotz wirtschaftlichem Erfolg (Szenario 1B)
Liberalisierung und Privatisierung führen zu starken Ungleichheiten   +++   Digitale Transformation sichert Wettbewerbsfähigkeit, führt aber zur gesellschaftlichen Spaltung   +++   Gespaltener Arbeitsmarkt und signifikante soziale Ungleichheit   +++   Macht globaler Konzerne schränkt Spielräume von Politik und Zivilgesellschaft ein   +++   Ökonomisch motivierte Zuwanderung, aber wenig Integration   +++   Individualisierung und Zuwanderung forcieren Wertekonflikte   +++   Orientierung an kurzfristigen Erfolgen bremst Innovationen aus   +++   Wettbewerb vor Umwelt – traditioneller Statuskonsum   +++   Schärfere Gesetze, trotzdem insgesamt kritische Sicherheitslage   +++   Deutschlands internationale Position wird von seinen Kernbranchen geprägt  
Spurtreue Beschleunigung - Wohlfühl-Wohlstand (Szenario 1C)
Liberalisierung und Privatisierung ermöglichen breiten Wohlstand   +++   Erfolgreiche digitale Transformation fördert Zusammenhalt – aber Ende der Privatheit   +++   Ökonomisch motivierte Flexibilisierung, breite private Absicherung   +++   Stabiles repräsentatives System mit supranationalen Kompetenzen   +++   Ökonomisch motivierte Zuwanderung und Integration in "Leitkultur"   +++   Individualisierung und Ökonomisierung als gemeinsame Wertebasis   +++   Neue Konzepte und Positionen – aber kein Fokus auf Nachhaltigkeit   +++   High-Tech-Wachstumspfad und Dominanz traditionellen Konsums   +++   Überwachung erhöht objektive Sicherheit, aber latente Ängste   +++   Deutschland fördert machtpolitische EU und Freihandel  
Neue Horizonte - Spielräume für die Zivilgesellschaft (Szenario 2A)
Start Ups und neue Innovationsnetze sichern Wettbewerbsfähigkeit   +++   Erfolgreiche digitale Transformation fördert Zusammenhalt in der Open-Data-World   +++   Selbstmotivierte Flexibilisierung, breite private Absicherung   +++   Enge Verzahnung von Zivilgesellschaft und Wirtschaft, Politik lässt neue Freiräume   +++   Primär ökonomische Zuwanderung in eine offene Gesellschaft   +++   "Wir"-Orientierung mit hoher Bedeutung von Freiheit   +++   Energiewende forciert Vielfalt bei Mobilitäts- und Lebenskonzepten   +++   Nachhaltiger Konsum und Innovation (Effizienz- & Effektivitätspfad)   +++   Sicherheit und Freiheit durch innovative Technologien   +++   Deutschland fördert auf Kernaufgaben reduzierte EU und Freihandel  
Neue Horizonte - Stärke durch Vielfalt (Szenario 2B)
Klassische Innovationsallianzen (Industrie & KMU) sichern Wohlstand   +++   Erfolgreiche digitale Transformation mit aktiver öffentlicher Hand in Open-Data-World   +++   Flexible "Projektwelt" und ergänzende private Absicherung   +++   Starke Zivilgesellschaft in Kooperation mit Politik und Wirtschaft   +++   Ökonomische und humanitäre Zuwanderung in eine offene Gesellschaft   +++   "Wir"-Orientierung mit hoher Bedeutung von Vielfalt   +++   Energie- und Mobilitätswende bei Angleichung Stadt-Land   +++   Nachhaltiger Konsum und Öko-High-Tech im Effizienzpfad   +++   Effiziente Sicherheitsarchitektur wird zur Selbstverständlichkeit   +++   Deutschland fördert erneuerte EU und Freihandel  
Neue Horizonte - Renaissance der Politik (Szenario 2C)
Politik setzt auf Umverteilung – Mittelstand prägt Wirtschaftsstruktur   +++   Öffentliche Hand fördert digitale Transformation und sichert Privatsphäre   +++   Flexible "Projektwelt" mit Staat als Garant sozialer Sicherheit   +++   Enge Verzahnung von ZG und Politik drängt Einfluss der Wirtschaft zurück   +++   Primär humanitäre Zuwanderung in eine offene Gesellschaft   +++   "Wir"-Orientierung mit hoher Bedeutung von Gerechtigkeit   +++   Energie- und Mobilitätswende reduziert Stadt-Land-Ungleichgewicht   +++   "Nutzen statt Besitzen" und regionale Kreisläufe als Ergänzung   +++   Geringe Bedrohungslage – Sicherheit ist kein dominantes Thema   +++   Deutschland fördert erneuerte EU und gerechten Freihandel  
Bewusste Abkopplung (Szenario 3)
Abkehr vom Wachstumsparadigma, Fokus auf Binnenwirtschaft   +++   Slow Digitalization, regionalisert und mit persönlicher Datenhoheit   +++   Öffentliche Hand entkoppelt Arbeit und soziale Sicherheit vom Einkommen   +++   Enge Verzahnung von Zivilgesellschaft und Politik drängt Einfluss der Wirtschaft zurück   +++   Vornehmlich humanitär motivierte Zuwanderung   +++   "Wir"-Orientierung mit hoher Bedeutung von Solidarität   +++   Stark gesteuerte Energie- und Mobilitätswende und neuer Fokus aufs Land   +++   "Nutzen statt Besitzen" als Leitmotiv der Suffizienzwirtschaft   +++   Unterschätzte Bedrohungslage – Sicherheit ist kein dominantes Thema   +++   Bewusste Abkehr von Globalisierung und hegemonialer Machtpolitik  
Alte Grenzen (Szenario 4)
Alte Strukturen bremsen Innovation, breiter Wohlstandsrückgang   +++   Staat reklamiert Datenhoheit und bremst digitalen Fortschritt aus   +++   Spaltung des Arbeitsmarktes und massive Versorgungslücken   +++   Renationalisierung der Politik mit autoritären Strukturen   +++   Begrenzung der Zuwanderung und Abschottung   +++   Statusdenken und Traditionen führen zu starken Wertekonflikten   +++   Ausbleibende Innovationen und Rahmenbedingungen führen zu Problemen   +++   Umweltthemen rücken in den Hintergrund – klassischer Konsum   +++   "Law-and-Order"-Politik hebelt Grundrechte aus   +++   Proaktive Abkehr von EU und NATO, hohe Investitionen in äußere Sicherheit  

 

Diese acht Szenarien sind zunächst „Denkwerkzeuge“, denen weder Wahrscheinlichkeiten noch Aussagen zu ihrer Wünschbarkeit zugeordnet sind. Nur so stimulieren sie uns, bisher wenig genutzte Denkpfade zu beschreiten. Sollen die Szenarien nun verwendet werden, um strategische Handlungsfelder zu identifizieren, die Deutschland zukunftsfest machen, so stellen sich weitere Fragen: Wie viel Veränderung ist – von heute aus gesehen – mit einem Szenario verbunden? Welche Entwicklung erwarten wir für die Zukunft? Und gibt es Szenarien, deren Eintreten wir uns eher wünschen als andere? Diesen Fragen wurde im Rahmen der im zweiten Online-Dialog durchgeführten Szenario-Bewertung nachgegangen. Diese lieferte eine klare Einordnung der Szenarien in drei positive Wunschbilder (2er-Szenarien, Neue Horizonte) und drei deutlich negativ gesehene Zukunftsbilder (1A, 1B und 4). Aus dieser normativen Einschätzung ergeben sich sieben Leitfragen für den zukünftigen Diskurs:
Leitfrage A: Wie entsteht „Mut zur Veränderung“?: Das Szenario 1B (Spaltung trotz wirtschaftlichem Erfolg) entspricht am ehesten der Gegenwart und ist gleichzeitig aber das Szenario mit dem höchsten Erwartungswert – und eines, dass wir uns keinesfalls wünschen. Es ist also notwendig zu überlegen, wie ein reines „Weiter So“ verhindert werden kann. Wie kann es gelingen, dass in der Veränderung nicht zuerst Gefahren, sondern Chancen gesehen werden? Was ist zu tun, um die Notwendigkeit struktureller Veränderungen anzuerkennen und zu verdeutlichen?
Leitfrage B: Wie kann ein Zielpfad aussehen, der Offenheit und Globalität mit Nachhaltigkeit und Gemeinschaftlichkeit verbindet?: Zentrale Herausforderung ist es, dass sich Deutschland von einem Gegenwartsbild entsprechend der 1er-Szenarien zu einem Zukunftsbild entsprechend der 2er-Szenarien - und hier insbesondere dem Szenario 2B (Stärke durch Vielfalt) - entwickelt. Dies bedeutet, dass wir Offenheit und Globalität erhalten, während sich unser Land in Richtung Nachhaltigkeit und Gemeinschaftlichkeit weiterentwickelt. Wie kann dieser Pfad aussehen? Welches sind in diesem Zusammenhang die zentralen Aufgaben und Veränderungen?
Leitfrage C: Wie viel Freiheit ist notwendig, damit sich die positiven Kräfte der Digitalisierung entfalten?: Bei der ersten offenen Frage im Wunschraum geht es darum, wieviel Freiheit und welche Spielräume der Staat den Unternehmen und der Zivilgesellschaft lassen sollte: Geht die Zeit des behütenden Staates mit der Digitalisierung unwiderbringlich zu Ende? Kann Deutschland im globalen Wettbewerb überhaupt bestehen, ohne sich auf mehr Freiheit und Selbstverantwortung einzulassen? Ist das Szenario 2A (Spielräume für die Zivilgesellschaft) ein sinnvolles Zielbild auf dem Weg in die Zukunft?
Leitfrage D: Wieviel Umverteilung und Steuerung sind notwendig, um Ungleichheit zu überwinden?: Bei der zweiten offenen Frage im Wunschraum geht es darum, ob der Staat den globalen Konzernen aktiv entgegentritt und ob er zur Überwindung von Ungleichgewichten auch eine aktive Umverteilung von Einkommen und Vermögen anstrebt: Wird die Politik gewachsene Strukturen in Frage stellen? Können sich zivilgesellschaftliche Akteure stärker und direkter in den politischen Diskurs einbringen und sich Gehör verschaffen? Ist das Szenario 2C (Renaissance der Politik) ein sinnvolles Zielbild auf dem Weg in die Zukunft?
Leitfrage E: Wie wichtig sind die Berücksichtigung von subjektivem Wohlbefinden und politischer Akzeptanz im Transformationsprozess?: Die notwendige Veränderung erfolgt nicht im luftleeren Raum, sondern im Rahmen eines globalen Standortwettbewerbs. Daraus ergeben sich weitere Fragen: Wie wichtig sind subjektives Wohlbefinden und politische Akzeptanz im Veränderungsprozess? Wo muss Deutschland Rücksicht nehmen, und wo sind Kompromisse notwendig oder sinnvoll? Kann Szenario 1C (Wohlfühl-Wohlstand) ein sinnvolles Zwischenziel sein?
Leitfrage F: Kann ein spezifisch deutscher Weg der Transformation im Sinne von mehr Suffizenz und bewusster Abkopplung in einem globalisierten Umfeld überhaupt gelingen?: Das Szenario 3 (Bewusste Abkopplung) gehört zwar nicht zum direkten Wunschraum. Dennoch stellen sich Fragen, ob dieses Zukunftsbild nicht stärker als die 2er-Wunschszenarien zu Zielbildern werden müssten: Können wir globale Gerechtigkeit im Rahmen des offenen und globalen Systems erreichen? Kann ein technologischer Effizienzpfad die ökologischen Probleme hinreichend lösen oder bedarf es auch eines dezidierten Verzichts in bestimmten Bereichen?
Leitfrage G: Wie kann ein Abgleiten in das Rückwärts-Szenario verhindert werden?: Schließlich weist das Szenario 4 (Alte Grenzen) einen signifikanten Erwartungswert sowie einen minimalen Wunschwert auf. Daraus ergibt sich die Frage, wie sich eine solche Zukunft, die mit Abschottung, Re-Nationalisierung und einer Aushebelung von Grundrechten einherginge, verhindern lässt.

Im Rahmen der Zukunftskonferenz wurden die vier ersten Leitfragen in einzelnen Arbeitsgruppen intensiv diskutiert, so dass nunmehr erste Handlungsbedarfe und Lösungsansätze vorliegen, die nunmehr von der Initiative D2030 zusammengeführt und verdichtet werden. Weitere Informationen zu den bisherigen Ergebnissen und dem weiteren Vorgehen finden Sie hier.



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